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Ein Blumenstrauß für die Seele

Einfach mal raus aus dem System: nicht einkaufen oder kochen, Zeit für sich haben, zur Ruhe kommen und Kraft schöpfen. Das können Mütter und Väter in einer Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahme, Mutter-Vater-Kind-Maßnahme genannt, zum Beispiel in der Klinik im mecklenburgischen Rerik.

Veröffentlicht:02.08.2015 Schlagworte: Gesundheit Kommentare: 5

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Irgendwann wurde Sonja H. (35) klar, dass sie nur noch funktionierte. "Zu meinem Kind habe ich ständig nur noch gesagt, schnell, beeil dich, wir müssen los! Es gab einfach keine schönen Momente mehr." Die Alleinerziehende arbeitete auf einer 80-Prozent-Stelle im Schichtdienst. Für den 7-jährigen Julian musste sie eine Betreuung finden, wenn sie Spätschicht hatte, zwischendurch jonglierte sie Einkaufen, Kochen, Putzen, die Wäsche. Sonja H. fühlte sich erschöpft, hatte dauernd Rückenschmerzen. Als der Arzt eine Kur vorschlug, war ihr Chef skeptisch: "Drei Wochen Wellness, das soll helfen? Mach einfach mal Urlaub."

Urlaub oder Wellness – genau das ist die Mutter-Vater-Kind-Maßnahme nicht. Während des dreiwöchigen Aufenthalts erhalten die Mütter oder Väter medizinische und physiotherapeutische Behandlungen sowie psychosoziale Therapien, "Ein Maßnahmenbündel mit ganzheitlichem Ansatz", erklärt Ilka Granzow, die Leiterin der Klinik der AWO SANO gGmbH in Rerik. Alltägliche Aufgaben wie Kochen und Putzen entfallen. Für Sonja H. war allein das eine enorme Erleichterung. Auch sonst ist das Konzept für sie aufgegangen: Nach knapp drei Wochen in der Klinik zwischen Ostsee und Salzhaff fühlt sie sich gestärkt und zuversichtlich. "Mir ist klar geworden, dass ich nicht immer nur in der Rolle des Organisators sein möchte", sagt sie. "Für meine Lebensqualität als Mutter ist es mir wichtig, die Zeit mit meinem Kind zu genießen, solange es noch klein ist."

Körperliche Reaktionen auf den Stress

Der Stress, den Sonja H. und viele andere Mütter oder Väter empfinden, ist unabhängig von Herkunft, Alter oder sozialer Stellung. Die Eltern in der Reriker Klinik kommen aus ganz Deutschland, aus allen Bevölkerungsschichten, berichtet Klinikleiterin Ilka Granzow. Manche sind sehr jung, manche gestandene Frauen oder Männer aus dem Berufsleben, Alleinerziehende, Pflegeeltern oder Großeltern, die ihre Enkel betreuen. Manche haben Schicksalsschläge hinter sich. Gemeinsam haben sie schwere Erschöpfungszustände. Viele reagieren auf die Dauerbelastung mit psychosomatischen Beschwerden.

Ansprechpartnerin in allen therapeutischen Belangen ist in Rerik die sogenannte Bezugstherapeutin, die den Frauen über die Dauer des ganzen Aufenthaltes zur Seite steht. Für Sonja H. war das Steffi Arend, mit der sie auch den Kurplan erstellt hat. Darin werden individuelle Ziele formuliert, die die Frauen oder Männer in ihrer Kur erreichen wollen. Schluss mit Rückenschmerzen zum Beispiel, gelassener sein oder keine Angst mehr haben. Viele Eltern wollen Beruf und Kinder besser vereinen und dabei selbst nicht zu kurz kommen.

Sonja H. hatte schon am ersten Tag der Kur ein unerwartetes Erlebnis. "Ich wurde gefragt, wie es mir geht. Mir! Das war ein komisches Gefühl, weil mir klar wurde, wie ungewohnt diese Frage für mich geworden ist."

Einladung auf die Blumenwiese

Dass sich Eltern über all ihren Aufgaben selbst vergessen, erleben die Klinikmitarbeiterinnen regelmäßig. Die Expertinnen sprechen von "Selbstfürsorge". Deshalb wollen sie Anregungen geben, das Gespür der Eltern dafür wieder zu wecken. Was tut mir gut, was braucht mein Körper? "Manche merken, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes die Fürsorge für sich selbst vernachlässigt haben. Sie waren länger nicht beim Zahnarzt oder bei der Vorsorge", erklärt Heike Holzlöhner, die stellvertretende Klinikleiterin. Dafür ein Bewusstsein zu schaffen, ist Teil des Klinikangebots. "Wie eine Blumenwiese", sagt Heike Holzlöhner augenzwinkernd. "Wir laden die Familien ein, sich die Blumen zu pflücken, die sie brauchen. Manche nehmen nur ein kleines Blümchen mit, aber die Mehrheit geht mit einem ganzen Strauß nach Hause", sagt sie.

Seit 2007 haben Eltern einen gesetzlichen Anspruch auf eine Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahme, wenn sie medizinisch begründet ist. Früher wurden viele Anträge abgelehnt, inzwischen nur noch zehn bis zwanzig Prozent. Ilka Granzow begrüßt das ausdrücklich: "Wir brauchen diese Maßnahme."

Von der Politik wünscht sich Ilka Granzow, das Angebot weiter im Fokus zu halten. Denn die Eltern profitieren langfristig: Im Verlauf der Maßnahmen werden die körperlichen und psychischen Belastungen der Eltern bedeutsam reduziert. Nach der Maßnahme steigen die Belastungen zwar wieder an, aber auch nach einem Jahr sind noch mittlere Effekte nachweisbar. Während die psychische Belastung zwar zurückgeht, aber insgesamt überdurchschnittlich hoch bleibt, werden bei der Behandlung von Rückenschmerzen in den Mutter-Vater-Kind-Maßnahmen kurzfristig sehr große Effekte erzielt. Wie Sonja H. sind vor der Kur über 60 Prozent der Mütter von Rückenschmerzen betroffen. Sechs Monate nach der Maßnahme gaben nur noch 22 Prozent der Mütter an, unter Schmerzen zu leiden. Das geht aus dem Forschungsreport 2011 des Forschungsverbundes Familiengesundheit hervor, der in den Jahren 2000 bis 2003 und 2005 Erhebungen in 39 Mütter- und Mutter-Kind-Kliniken durchgeführt hat.

Anregungen für den Alltag

Viele Eltern nutzen den Klinikaufenthalt, um auch Verhaltensweisen und Gewohnheiten der Familie unter die Lupe zu nehmen. Manche Familien haben schlicht verlernt, die oft spärliche gemeinsame Zeit mit Freude gemeinsam zu verbringen. "Dafür geben wir niedrigschwellige Anregungen. Ein Spaziergang in der Natur mit geschärften Sinnen, mit Kreide auf dem Gehweg malen, Würfeln, Kartenspielen – das kostet kaum etwas, aber vielen Menschen sind einfach die Ideen dafür ausgegangen", sagt Heike Holzlöhner.

Für Sonja H. und Julian geht es bald zurück in den Alltag nach Baden-Württemberg. Vorher wird Sonja H. noch ein Abschlussgespräch mit Bezugstherapeutin Steffi Arendt führen. Welche Kurziele habe ich erreicht? Von welchen Erkenntnissen kann ich zuhause profitieren? Eins weiß Sonja H. schon jetzt: In einem neuen Job wird sie 13 Stunden weniger als bisher arbeiten – ohne Schichtdienst. Sie will mehr Sport machen und endlich wieder im Orchester spielen.

Übungen in Lebensqualität

Im Rahmen des Nachsorgeprogramms vom GesundheitsService AWO wird in einigen Wochen nachgehakt, wie es Sonja H. und ihrem Kind geht. Maßnahmen zur Nachsorge wird sie auch mit ihrem Arzt besprechen. In einem ausführlichen Fragebogen kann sie zudem ein Feedback direkt an die Klinik geben, wie ihr der Aufenthalt gefallen hat. "Auch das ist eine Übung in Lebensqualität, die eigenen Bedürfnisse zu äußern", sagt Steffi Arendt.

Vor dem letzten Physiotherapie-Termin haben Mutter und Sohn noch ein bisschen Zeit – Zeit zum Kickern und Fußballspielen, Julians großem Hobby. Auf dem Spielplatz hangelt sich Julian gekonnt am Klettergerüst entlang. "Er hat am ersten Tag beschlossen, dass er das Hangeln üben will", erklärt Sonja H. Später sitzen die beiden noch ein paar Minuten gemeinsam im Strandkorb. Irgendwo im alten Baumbestand des Klinikgeländes ruft der Kuckuck. "Ich freu mich auf zuhause, aber hier war es auch schön", findet Julian. Sonja H. lächelt. Nicht nur Julian hat sein Kurziel erreicht.

Die AWO SANO Mutter-Kind-Klinik in Rerik ist auf die Behandlung psychosomatischer Beschwerden spezialisiert. Außerdem kommen Familien, die an Erkrankungen der Haut, des Stoffwechsels, der Atemwege und des Bewegungsapparats leiden. Durch Therapieangebote von Ärzten, Psychologen, Sozial- und Sportpädagogen, Ernährungsberatern und mit Hilfe eines Erzieherinnen-Teams schöpfen die Familien Kraft für einen gesünderen Alltag. In der Kurkita können die Kinder ganztags in altershomogenen Gruppen betreut werden. Die Klinik ist eine von 73 anerkannten Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen für Mutter-Kind-Kuren des Deutschen Müttergenesungswerks.

Haben Sie schon einmal eine Mutter- oder Vater-Kind-Kur gemacht? Was hat sich für Sie verbessert? Was ist Ihnen wichtig für die Lebensqualität Ihrer Familie und was macht Ihrer Meinung nach Lebensqualität in Deutschland aus?

Kommentare: 5

  • Ich war im Oktober 2014 mit meinen beiden Kindern auf Kur in Rerik. Es hat mir sehr gut getan aus dem Alltag herauszukommen und Zeit zu haben sich über Neues Gedanken zu machen. Leider habe ich von Nachsorge oder ähnliches nichts erfahren. Besser wäre, wenn für den Anschluss an eine Kur Adressen oder Ansprechpartner in Wohnortnähe vorbereitet sind. Denn zu Hause angekommen hat es nicht lange gedauert, in alte Strukturen zurück zu fallen. Dennoch ist eine MuKiKur eine sehr sinnvolle Sache. Gerne würde ich so eine Kur wiederholen!

  • Gute Sache, mal raus auf Zeit aus vielen Stresssituationen, aber danach..._ Was passiert dann? Dann kehren leider die Ursachen für Stress und Überlastungen schnell zurück, eben oft in der schweren Vereinbarkeit von Kind- Familie- Beruf. Kuren sind sicher gut, aber auch gefährlich, denn nach den Wochen der Kur und auch mancher Kurschatten kommt der Alltag zurück, sind Probleme oft nicht gelöst, sondern mehr geworden. Kuren können sicher helfen, auch beratend wirken, aber im normalen Alltag sieht dann vieles wieder ganz anders aus, da fehlen dann auch die vielen Dienstleistungen für Mütter- Väter und Kinder, die eben das Kurklima für viele Patienten und Gäste angenehm und so ganz anders wie zu Hause gestalten. Der Alltag hat eben nicht so viele Idealzustände. Gruß- Uwe

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