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"Man muss den Menschen zuhören"

Prof. Enrico Giovannini ist Wirtschaftsexperte und Statistiker. Seit Jahren befasst sich der Italiener mit der Messbarkeit von Lebensqualität, zum Beispiel als einer der Initiatoren der wegweisenden “Beyond GDP”-Konferenz 2007. Die Konferenz war die Auftaktveranstaltung für einen internationalen Diskurs über mögliche Indikatoren für Lebensqualität.

Veröffentlicht:31.08.2015 Kommentare: 2

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Prof. Giovannini, vor zehn Jahren waren Sie einer der führenden Wissenschaftler, der die "Beyond GDP" Agenda angestoßen haben. Warum war die Debatte aus Ihrer Sicht notwendig?
Im Jahr 2004, als das erste OECD-Weltforum "Statistics, Knowledge, and Policy" in Palermo stattfand, hatten viele Industriestaaten eine Phase des Wirtschaftswachstums. Gleichzeitig gab es jedoch wachsende Sorgen in Bezug auf Umweltprobleme, steigende Ungleichheit und andere unbefriedigende gesellschaftliche Umstände. In dieser Situation wurde klar, dass das BIP als Wohlstandsindikator zu kurz greift. Um den Zustand eines Landes und die Lebensqualität seiner Bewohner zu bewerten, ist es wichtig, die Perspektive zu erweitern und auch andere Aspekte von Lebensqualität zu erfassen. Aspekte, die über das BIP hinausgehen.  Im Lissabon Prozess wurde die "Beyond GDP" Agenda noch nicht besonders stark postuliert. In der Europa 2020-Strategie gewinnt Sie aber stark an Bedeutung.

Sind sie mit dem Fortschritt der "Beyond GDP" Agenda zufrieden?
Ich bin sehr zufrieden mit dem Fortschritt der Agenda und der zunehmenden öffentlichen Wahrnehmung. Es erscheint heute kaum ein internationaler Bericht oder Buch über die Zukunft unserer Gesellschaften, in dem die Notwendigkeit für eine umfassendere Wohlstandsmessung nicht betont wird. Auch Wissenschaftler, Statistiker und politische Entscheidungsträger sind sich darin einig. Das wird zum Beispiel deutlich in der anstehenden Einigung über die nachhaltigen Entwicklungsziele (sustainable development goals) der Vereinten Nationen.

Auch im Hinblick auf die Messung gab es deutliche Verbesserungen. Heute haben wir bessere Statistiken für die Messung von Lebensqualität als noch vor zehn Jahren. Jetzt müssen wir uns aber von der statistischen zur politischen Agenda bewegen. Meiner Meinung nach denken Politiker noch viel zu sektoral – also lediglich in dem Politikfeld für das sie konkret verantwortlich sind. Von einem integrativen Denken über Strategien, die die Lebensqualität verbessern und die Nachhaltigkeit im Blick haben, sind die meisten Politiker leider weit enfernt.

Es wäre wünschenswert, wenn es in der Politik ein wachsendes Bewusstsein für die Wechselwirkungen  politischer Entscheidungen in verschiedenen Politikfeldern geben würde.

Was denken Sie über die Strategie der deutschen Regierung "Gut leben in Deutschland – was uns wichtig ist"? Glauben Sie, dass die deutsche Regierung angesichts ihrer Entscheidung, unmittelbar mit den Bürgern in Kontakt zu treten, den Erwartungen der Menschen, die in Deutschland leben, besser gerecht werden wird?
Drei Dinge sind wichtig für Entscheidungsträger, um ein fundiertes Verständnis darüber zu gewinnen, was die Lebensqualität der Menschen ausmacht und um den Erwartungen der Menschen besser gerecht zu werden: Erstens: den Menschen zuhören, um besser zu verstehen, was ihnen wichtig ist. Daher ist der landesweite Dialog eine gute Gelegenheit für Politiker, Meinungen und Themen zu hören, die in einer Umfrage nie abgedeckt werden können. Um ein möglichst vielschichtiges Bild zu erhalten, ist es auch sehr wichtig, diese Debatten quer durch verschiedene gesellschaftliche Gruppen und verschiedene Altersgruppen aus verschiedenen Landesteilen zu führen. So gibt es etwa Themen, die auf dem Land von größerer Bedeutung sind als in der Stadt. Der Dialog bringt Bürger und Politiker einander näher. Sie gibt den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl mehr Einfluss zu haben und ist damit ein ein wichtiges Instrument zur demokratischen Legitimation der  relevanten Dimensionen von Lebensqualität.

Zweitens ist eine umfassende Bestandsaufnahme mit repräsentativen Befragungen nötig, um zu erfassen, was den Menschen wichtig ist und um eine statistisch belastbare Basis ihrer Ansichten zu erhalten. Schließlich braucht es repräsentative Befragungen zur Lebensqualität, die die Entwicklung des Wohlstands über die Zeit und in verschiedenen Regionen  beobachten zu können.

Was ist die wesentliche Herausforderung bei der Überwindung der Lücke zwischen dem, was die Bürger wünschen, was Wissenschaftler für wichtig halten und was die Politik dann umsetzt?
Die Bürgerinnen und Bürger machen sich typischerweise um das Heute Gedanken: um ihr Einkommen, ihre Arbeit, ihr Familienleben. Auch Politiker haben die Tendenz, in Wahlperioden zu denken und ihre Politik entsprechend auszurichten. Politikgestaltung muss jedoch weiter voraus schauen und die Nachhaltigkeit des Wohlstands berücksichtigen. Daher werden von Wissenschaftlern zusätzlich zu belastbaren Daten zur Lebensqualität auch analytische Modelle benötigt, um zukünftige Herausforderungen besser abschätzen zu können und die kurz‑ und langfristigen Auswirkungen vorgeschlagener politischer Maßnahmen zu bewerten. Auf Basis dieser wissenschaftlichen können Politiker auch für Ihr politisches Handeln zur Rechenschaft gezogen werden,  wenn sie Lösungen für gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen vorschlagen.

Über Enrico Giovannini

Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Enrico Giovannini war 2001 bis 2009 Leiter der Generaldirektion Statistik der OECD, wo er verschiedene Reformen und einen Diskussionsprozess über die Ausweitung des Bruttosozialprodukts als Messlatte für Fortschritt und Lebensqualität anstieß. 2007 veranstalteten die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, der Club of Rome, OECD und WWF die Konferenz "Beyond GDP" als Auftaktveranstaltung eines internationalen Diskurses. Giovannini war zwischen 2009 und 2013 Präsident des italienischen Statistikamtes Istituto Nazionale di Statistica (ISTAT), von April 2013 bis Februar 2014 war er parteiloser Arbeits- und Sozialminister im Kabinett Letta.

Zum Hintergrund

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP, englisch: Gross Domestic Product, GDP) bildet den Wert aller Güter und Dienstleistungen ab, die ein Land erwirtschaftet. Damit ist es ein wichtiger Gradmesser für die Wirtschaftskraft einer Volkswirtschaft. Bislang gilt es als zentrale messbare Größe für Lebensqualität. Für sich allein genommen vermag das BIP die tatsächlichen Lebensverhältnisse in einem Land aber nicht vollständig abzubilden. Der Bürgerdialog soll helfen, aus den Themen, die den Menschen am Herzen liegen, zusätzliche Maßeinheiten für Lebensqualität zu entwickeln. Ähnliche Initiativen gibt es auch in anderen Staaten. Das Interview mit Prof. Giovannini ist der erste Teil einer Serie, die die Anliegen des Bürgerdialogs aus internationaler Perspektive beleuchtet.
Mehr über den Hintergrund des Bürgerdialogs erfahren Sie hier.

Das Interview führte Dr. Anika Rasner aus dem Projektteam "Gut Leben",  Stab für politische Planung im Bundeskanzleramt.

Mehr aus der Reihe Internationale Perspektiven: Svenja Schulz, Schottland

Mehr aus der Reihe Internationale Perspektiven: Dr. Stefan Bergheim und Ben Warner, Deutschland und USA

Kommentare: 2

  • "Messbarkeit von Lebensqualität" - hört sich gut an, ist aber völlig irreführend. Genau das Gegenteil interessiert die "Mächtigen": wie weit kann ich dem Volk die Daumenschrauben zudrehen, bevor es aufschreit und zur Revolution schreitet?

    Es geht um Machtsicherung und Machterhaltung. Verkauft wird uns das unter der freundlich bunten Verpackung: Volk, wir prüfen, ob es dir auch gut geht. Wir kümmern uns um dich. Wir pampern dich, wenn du schön brav bist.

    "Analytische Modelle für zukünftige Herausforderungen" - Da denke ich an die Finanzkrise 2008, an die endlos andauernde Griechenlandkrise, an die Völkerwanderung von Süd nach Nord. Mit welchen Zahlen hatten sie bei der Völkerwanderung vor 2 Jahren kalkuliert?

    Diese falschen Propheten mit ihrem vermeintlichen Analysen, Modellen und Hochrechnungen sind doch allesamt auf die Fresse gefallen. Wenn man Politiker nach Leistung bezahlen würde, kämen sie über den Mindestlohn kaum hinaus!

  • Sollten "wir" nicht alle mehr unserer menschlichen Intuition folgen als uns den statistischen Werten zu unterwerfen, die auch nur zeitgerecht von Menschen berechnet und in den Raum gestellt sind? Verantwortliches Handeln unterliegt der eigenen Wahrnehmung dessen, was in die Bewertung des Ganzen mit einfließen kann. Menschen selbst sind nicht bewertbar, denn sie tragen subjektive Eigenschaften in sich, durch die ihre Menschlichkeit erst hervor tritt. Diese Menschlichkeit stellt den Stand der Dinge dar und ist nicht der Denkweise einzelner unterworfen sondern spiegelt sich im globalen Wohlbefinden aller Mitmenschen wieder. Ich glaube "wir" haben ein System erschaffen, das uns nun an die menschlich realisierbaren Grenzen führt, die "wir" nur schwer in der Lage sind zu akzeptieren. Ich möchte nicht von Menschen bevormundet werden, deren Lebenseinstellung nicht mit dem natürlichen Werdegang in Einklang zu bringen ist. Diese Unausgewogenheit im System kann man jedoch durch die Umwelt spüren.