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"Ohne Indikatoren tappen wir im Dunkeln"

Dr. Stefan Bergheim und Ben Warner beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie sich Lebensqualität messen und verbessern lässt – der eine in Frankfurt am Main, der andere in Jacksonville, Florida. Im Interview sprechen sie über ihre Motivation dafür, sich mit dem Thema zu befassen, und über die Unterschiede zwischen der Arbeit auf lokaler und nationaler Ebene.

Veröffentlicht:28.09.2015 Kommentare: 2

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Was war Ihre ursprüngliche Motivation, sich mit dem Thema Lebensqualität zu beschäftigen?

Warner: In den 1980er Jahren bemerkte unsere örtliche Handelskammer, dass Experten für Wirtschaftsentwicklung "Lebensqualität" als einen wesentlichen Faktor für einen Standortwechsel von Unternehmen betrachteten. Wir sollten der Handelskammer dann dabei helfen, die hohe Lebensqualität in unserer Gemeinde zu vermarkten. Wir wiesen darauf hin, dass es wichtiger wäre zu verstehen, was unsere Lebensqualität eigentlich ausmacht und wie wir sie verbessern könnten. 1985 veröffentlichten wir unseren ersten Bericht zu Lebensqualitätsindikatoren, der seither jährlich aktualisiert wird.

Bergheim: Mein Ausgangspunkt war ein etwas anderer. Als Wirtschaftswissenschaftler habe ich viele Jahre lang für Finanzinstitute das Bruttoinlandsprodukt von Ländern analysiert und prognostiziert. Vor zehn Jahren bekam ich die Möglichkeit, breiter gefasste Messgrößen genauer zu untersuchen, darunter auch das subjektive Wohlbefinden. Dabei habe ich festgestellt, dass Deutschland in diesem Bereich nicht zu den führenden Ländern auf der Welt zählt. Also habe ich die Finanzindustrie verlassen, um Wege zu finden, wie auch in Deutschland eine Lebensqualität ähnlich der in Dänemark, Schweden, den Niederlanden, Kanada oder Australien erreicht werden kann.

Können Sie kurz erläutern, warum es wichtig ist, die Lebensqualität statistisch zu erfassen?

Bergheim: Nachdem wir uns in einem breiten und partizipativen Prozess darauf geeinigt haben, welche Faktoren für die Lebensqualität wichtig sind, müssen wir versuchen, so viele wie möglich davon zu messen. Nur wenn wir über Daten verfügen – objektive wie subjektive –, können wir sehen, in welchen Bereichen das Leben schon gut ist und wo wir vielleicht noch einiges tun müssen. Indikatoren sind heikel und wurden in der Vergangenheit oft missbraucht, ohne sie tappen wir aber im Dunkeln.

Warner: Der Managementberater Peter Drucker sagte einmal: Was gemessen wird, wird gemanagt. Was gemessen wird, beeinflusst die Politikgestaltung, die Entwicklung von Programmen, die Rechenschaftspflicht, die öffentliche Debatte und Haushaltsentscheidungen. Die Werte einer Gemeinschaft kommen am deutlichsten darin zum Ausdruck, wie sie sich selbst wahrnimmt und über sich selbst sprechen will. Kurzum: Die wahren Werte einer Gemeinschaft im Verlauf der Zeit erkennt man daran, wo sie ihre Prioritäten setzt, und dafür sind normalerweise Messungen notwendig.

Sie arbeiten beide auf der lokalen Ebene und mit lokalen Indikatoren. Die Bundesregierung führt derzeit einen bundesweiten Bürgerdialog zum Thema Lebensqualität in Deutschland durch. Auf der Grundlage dieses Dialogs soll ein Indikatorensystem entwickelt werden, das den Stand und die Entwicklung der Lebensqualität in Deutschland widerspiegelt. Inwiefern unterscheidet sich das von der Arbeit auf der lokalen Ebene und was sind die größten Herausforderungen dabei?

Bergheim: Ich glaube nicht, dass es bei derartigen Prozessen generell große Unterschiede zwischen der lokalen Ebene und der nationalen Ebene gibt. Der wesentliche Unterschied liegt darin, welche Organisation den Prozess ausrichtet: Schöne Aussichten – Forum für Frankfurt ist ein zivilgesellschaftlicher Prozess und wir können keinen ressortübergreifenden Aktionsplan für unsere Stadtregierung erstellen. Wir müssen andere Wege finden, wie Indikatoren die Lebensqualität der Menschen verbessern können.

Warner: Ob es sich um Nachbarschaftsprojekte oder nationale Systeme zur Messung der Lebensqualität handelt: Die Herausforderung besteht darin, über die Durchschnittswerte hinaus zu erkennen, dass sich hinter den Daten individuelle Personengruppen mit ganz unterschiedlichen Niveaus von Lebensqualität verbergen. Je größer die Bevölkerungsgruppe ist, in der Dialoge durchgeführt werden, desto schwieriger kann es sein, diese Unterschiede in der Lebensqualität zu erkennen. Oft ergeben sich aber gerade aus der Beachtung dieser Abweichungen die besten Möglichkeiten für eine Politik, die die allgemeine Lebensqualität verbessert.

Wie definieren Sie persönlich "ein gutes Leben"?

Warner: Für mich ist ein gutes Leben ein Leben, das einen Sinn hat, das das Leben der Menschen in meinem Umfeld verbessert; ein Leben mit starken Beziehungen zu Familie und Freunden; ein Leben, in dem es möglich ist, die Menschen und Orte, mit denen man täglich in Kontakt kommt, zu schätzen. Wenn ich gemeinsam mit jemandem, der mir etwas bedeutet, einen Sonnenuntergang genießen kann, dann ist das ein guter Indikator dafür, dass sich meine physische Gesundheit, mein seelisches Wohlbefinden, finanzielle Stressfaktoren, Umwelteinflüsse und viele andere Dimensionen meines Lebens im Gleichgewicht befinden.

Bergheim: Dem kann ich nicht viel hinzufügen. Familie, körperliche und seelische Gesundheit, eine sinnvolle Arbeit, viele zwischenmenschliche Beziehungen und eine stabile finanzielle Situation – das sind alles Faktoren, die für ein gutes Leben für mich und die Menschen in meinem Umfeld wichtig sind.

Über Stefan Bergheim

Dr. Stefan Bergheim ist Gründer und ehrenamtlicher Direktor der gemeinnützigen Denkfabrik "Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt" in Frankfurt am Main. Seit 2009 arbeitet das Netzwerk an neuen Wegen und Methoden, mit denen die Lebensqualität der Menschen in Deutschland verbessert werden kann. Mit dem 2013 gestarteten lokalen Lebensqualitätsprojekt "Schöne Aussichten – Forum für Frankfurt" setzt Bergheim seine Ansätze und Ideen auch in die Praxis um.
Als Leiter der Arbeitsgruppe "Wohlstand, Lebensqualität und Fortschritt" war Bergheim 2011 und 2012 einer der Kern-Experten im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin. Als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats begleitet er auch den aktuellen Bürgerdialog der Bundesregierung. Den Jacksonville Community Council und Ben Warner kennt Stefan Bergheim seit vielen Jahren. Bereits 2011 veröffentlichte er eine Studie zum Projekt in Jacksonville.

Über Ben Warner

Ben Warner war bis zum Frühjahr 2015 Präsident und Geschäftsführer des Jacksonville Community Council im US-amerikanischen Florida. Ziel der unabhängigen Organisation ist es, die Lebensqualität der Menschen vor Ort zu verbessern und das Gemeinwesen zu stärken. Dabei setzt der Jacksonville Community Council darauf, Bürgerinnen und Bürger direkt in Dialog, Forschungsarbeit, Konsensbildung, Beratung und Führungsentwicklung einzubinden. Ben Warner arbeitete bereits seit 1998 in verschiedenen Positionen für die Organisation und war zudem führender Berater bei CommunityWorks. 2013 folgte er als einer von über 100 internationalen Experten aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Verwaltung der Einladung von Bundeskanzlerin Merkel , eine Rede auf dem 1. Internationalen Deutschlandforum "Was Menschen wichtig ist – Lebensqualität und Fortschritt" zu halten.

Zum Hintergrund

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP, englisch: Gross Domestic Product, GDP) bildet den Wert aller Güter und Dienstleistungen ab, die ein Land erwirtschaftet. Damit ist es ein wichtiger Gradmesser für die Wirtschaftskraft einer Volkswirtschaft. Bislang gilt es als zentrale messbare Größe für Lebensqualität. Für sich allein genommen vermag das BIP die tatsächlichen Lebensverhältnisse in einem Land aber nicht vollständig abzubilden. Der Bürgerdialog soll helfen, aus den Themen, die den Menschen am Herzen liegen, zusätzliche Maßeinheiten für Lebensqualität zu entwickeln. Ähnliche Initiativen gibt es auch in anderen Staaten. Das Interview mit Dr. Stefan Bergheim und Ben Warner ist der dritter Teil einer Serie, die die Anliegen des Bürgerdialogs aus internationaler Perspektive beleuchtet.
Mehr über den Hintergrund des Bürgerdialogs erfahren Sie hier.

Mehr aus der Reihe Internationale Perspektiven: Prof. Enrico Giovannini, Italien

Mehr aus der Reihe Internationale Perspektiven: Svenja Schulz, Schottland

Kommentare: 2

  • Auch ich glaube, dass Indikatoren sehr wichtig sind, um eine politische Relevanz überhaupt in Ansätzen erkennen zu können. Wer anders als der Mensch selbst könnte Indikator für politische Handlungsweisen sein? Es sind also die GG, die jeder von uns als Indikator erkennen muss, um sich an dem zu messen, was sie vorgeben und dann daran zu arbeiten, diese Vorgaben möglichst durch Arbeit mit den entsprechenden Bausteinen auch zu verwirklichen. Ich sehe mich als Frau, die diesen GG in vollem Umfang entspricht und stelle doch fest, dass gerade in der Öffentlichkeit stehende Personen nicht unbedingt an den geforderten menschlichen Kompetenzen gemessen werden sondern eher an deren Aktualität. Interesse zu wecken bedeutet innere Werte so anzusprechen, dass daraus äußere Umstände erwachsen, um an einer friedvollen Gemeinschaft zu bauen. Alles was dann kommt ist relevant für das gesellschaftliche Interesse und mag gesonderte Indikatoren benötigen, um in das Weltgeschehen mit einfließen zu können.

  • "Ohne Indikatoren tappen wir im Dunkeln"

    Genau das muss sich meine Großmutter auch gedacht haben, als sie in dunklen Bombennächten im Ruhrgebiet gegen Kriegsende mit 4 Kindern an der Hand zum Luftschutzbunker eilte.

    Über Sinn und Unsinn dieser Aktion "Lebensqualität messen und verbessern" hätte sie nur verständnislos den Kopf geschüttelt.

    Merkt Ihr eigentlich, wie peinlich und banal Eure "großen Themen" der Zeit sind?

    Im übrigen bin ich der Meinung, dass Afrika nicht zu Deutschland gehört ...