Dorfkultur erhalten, Herausforderungen meistern
Bei der mittlerweile siebten Station des Bürgerdialogs "Gut leben auf dem Land – was uns wichtig ist" hat der Parlamentarische Staatsekretär beim Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Peter Bleser die Gemeinde Borgentreich im Landkreis Höxter besucht.
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Quelle: BMEL/photothek
Der Parlamentarische Staatsekretär beim Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Peter Bleser, war am 8. Oktober 2015 zu Gast in der Gemeinde Borgentreich im Landkreis Höxter. Ehe Bürgermeister Rauch ihm bei einem Ortsrundgang über Probleme wie den Leerstand im Stadtkern und den Ortsteilen, aber auch Schmuckstücke der Gemeinde wie die Barockorgel der St. Johannes Baptist Kirche, ins Bild setzte, besuchte Staatssekretär Bleser die Möbelfirma Decker im Ortsteil Borgholz, wo er sich über die Herausforderungen für mittelständische Unternehmen, die Infrastruktur und die Fachkräftegewinnung in ländlichen Räumen informierte.
Der Möbelproduzent hat vor rund 20 Jahren den Schritt weg von der Massenproduktion hin zur Spezialisierung auf individuelle Einrichtungen aus Massivholz höchster Qualität gewagt. Geschäftsführer Andreas Decker erklärte, wie er sich mit dem heimischen Rohstoff Buchenholz im umkämpften Möbelmarkt positioniert habe. Die meisten der rund 300 Mitarbeiter sind bereits seit ihrer Ausbildung bei Decker.
Im Veranstaltungssaal des Orgelmuseums Borgentreich entwickelten derweil 30 Bürgerinnen und Bürger in einem Workshop die wichtigsten Handlungsfelder des Ortes für ein gutes Leben auf dem Land, um sie dem Parlamentarischen Staatssekretär im Anschluss an dessen Ortsrundgang vorzustellen. Als Dialogteilnehmer eingeladen waren an diesem Abend Bürgerinnen und Bürger, die mit ihren unterschiedlichen Altersstufen, Berufen und ihrem Engagement einen Querschnitt der Gemeinde vertraten. Sie hatten die Gelegenheit, ihre Sorgen und Hoffnungen, aber auch ihre Zukunftsvorstellungen zum Thema "Gut leben auf dem Land – was uns wichtig ist" an den Parlamentarischen Staatssekretär Peter Bleser weiterzugeben. Unter den Leitthemen
- "Gut leben auf dem Land bedeutet für mich"
- "Besondere Freude habe ich in unserer Gemeinde an"
- "Diese 'Dinge' sollte mein Traum-Ort haben"
- "Besondere Herausforderungen und Aufgaben, die ich für unseren Ort und unsere Region sehe"
- "Das brauche ich in Zukunft (5/10/20 Jahre), damit ich hier gut leben kann"
erarbeiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als zentrale Handlungsfelder die Themen "Gemeinschaft & Dorfkultur erhalten", "Infrastruktur (Ärzte, ÖPNV, Pastor & Kirche, Handwerker, Geschäfte)", "Arbeitsplätze erhalten und ausbauen für alle Generationen" und "Junge Leute/junge Familien im Dorf halten, Schule und Kindergarten".
Die wichtigsten Ergebnisse des Workshops wurden anschließend dem Parlamentarischen Staatssekretär vorgestellt. Es folgte ein engagierter Dialog. Im Handlungsfeld "Gemeinschaft und Dorfkultur erhalten" ging es vor allem um das Thema Ehrenamt und Vereinswesen. Dazu wurde angemerkt, dass die Besteuerung von Vereinen und die persönliche Haftung für die im Ehrenamt engagierten Menschen immer höhere Anforderungen stellen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sprachen von einer Amerikanisierung des Rechtssystems, bei dem engagierte Vereinsvorsitzende schnell wegen möglicher Klagen mit einem Bein im Gefängnis stünden. Ein Teilnehmer argumentierte gegenüber dem Staatssekretär, dass das Ehrenamt allerorts wichtige Aufgaben übernähme, die eigentlich in der Verantwortung des Staates lägen. Es sei nicht einzusehen, dass neben anfallenden Mitgliedsbeiträgen beispielsweise auch noch Arbeitskleidung oder Spritkosten selbst übernommen werden müssten. Dem stimmte der Staatsekretär zu. Zudem wurde beklagt, dass selbst Arbeitgeber der öffentlichen Hand sich oft wenig aufgeschlossen gegenüber dem Ehrenamt zeigten und eine Freistellung oder auch nur ein Telefonat nicht immer toleriert würden. Ein weiterer Vorschlag zum Erhalt der Dorfgemeinschaft war die Schaffung nachbarschaftlicher Projekte. Als Beispiel wurde ein Miniheizkraftwerk genannt, für das sich in der Nachbargemeinde vier Familien zusammengeschlossen hatten.
Im Bereich "Junge Leute/junge Familien im Dorf halten, Schulen und Kindergärten" wünschten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein besseres Marketingkonzept seitens der Regierung. Die Leute auf dem Land seien weder dumm noch rückständig, wie es oft klischeehaft dargestellt würde. "Home Office in der Natur" sei ein möglicher Werbeansatz. Ein positives Bild vom Leben auf dem Land könne aber nur geschaffen werden, wenn man Bildung als Standortfaktor priorisiere. Schulen und Kindergärten dürften nicht gleich von Schließungen bedroht sein, wenn ein Jahrgang mal nicht die notwendige Klassenstärke aufbrächte, denn weder junge Arbeitnehmer, Unternehmer oder Ärzte ließen sich in Regionen nieder, wo ihre Kinder eingeschränkte oder gefährdete Ausbildungsmöglichkeiten hätten. Der Parlamentarische Staatssekretär verwies auf die Möglichkeiten jahrgangsübergreifenden Lernens, gab aber auch zu bedenken, dass die Qualität der Ausbildung bei zu kleinen Schulen nicht leiden dürfe. Danach wurde die Idee diskutiert, wie junge Leute in die Vereine geholt und dort gehalten werden könnten, um so lokale Bindungen zu schaffen. Auch hier wurden finanzielle Belastungen durch hohe Mitgliedsbeiträge als Hemmschwelle genannt.
Beim Thema Infrastruktur wurde insbesondere die Mobilität kontrovers diskutiert. Die pauschale Forderung nach einem Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs wurde zugunsten kreativer Kleinkonzepte infrage gestellt. Peter Bleser berichtete von einem Jugendtaxi in seinem Wahlkreis, bei dem der Landkreis ab einer bestimmten Uhrzeit einen Zuschuss zu Taxifahrten zahle. So könnten sich Jugendliche die Nachtfahrt nach Hause eher erlauben, zumal der Zuschuss auch bei gemeinsamen Fahrten von mehreren Fahrgästen geltend gemacht werden könne. Dieses Modell sei auch auf Fahrten von Senioren jederzeit übertragbar. Eine junge Ärztin bemängelte, dass finanzielle Förderprogramme allein nicht ausreichend seien, um Kollegen zur Niederlassung auf dem Land zu motivieren. Die Fortbildung oder Facharztausbildung sei hier ungleich schwieriger und zeitaufwendiger als in der Stadt. Ein junger Landarzt müsse sich jeden Schritt selbst organisieren, während in der Stadt vollständige Ausbildungsangebote vorhanden seien.
Auch beim Thema Arbeits- und Ausbildungsplätze forderten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehr staatliche Unterstützung und einen schnellen Ausbau von Breitbandverbindungen. Der Parlamentarische Staatssekretär informierte darüber, dass entsprechende Maßnahmenpakete vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur auf den Weg gebracht worden seien. Als wichtigen Punkt anerkannte Bleser auch das Argument, dass bei der guten Konjunktur Zeitverträge zu Gunsten von Festanstellungen reduziert werden müssten, um Arbeitnehmern mehr Planungssicherheit und Perspektiven für Familiengründung und den Erwerb eines Eigenheims zu geben.
Auf die Frage der Moderatorin, welche wichtigsten Themen des Bürgerdialoges der Parlamentarische Staatssekretär Bleser in seinem Koffer mit nach Berlin nehme, nannte er die organisatorische Anpassung der Ausbildung von Medizinern an ländliche Bedürfnisse, einen Appell an die Arbeitgeber, das Ehrenamt höher zu schätzen und die Senkung von Steuersätzen für Vereine. Auch nehme er das Anliegen mit, Jungunternehmen im ländlichen Raum verstärkt zu fördern.
Die "Orgelstadt Borgentreich" ist der siebte der insgesamt zehn Dialogorte, mit denen das BMEL innerhalb des Regierungsdialoges "Gut leben in Deutschland" den Fokus auf den ländlichen Raum lenkt. Die Kleinstadt ist ein Grundzentrum zwischen Kassel und Paderborn in der landwirtschaftlich geprägten Warburger Börde und dem Weserbergland mit seinen Laub- und Mischwäldern. Wichtigste Wirtschaftszweige sind die Herstellung von Möbeln und Metallerzeugnissen. Der demografische Wandel trifft auch diese Kleinstadt mit ihren insgesamt rund 9.000 Einwohnern (Kernstadt ca. 2.500 EW, 12 Stadtbezirke) besonders hart. Bis 2030 soll die Bevölkerungszahl Prognosen zufolge um ca. 24% gegenüber 2000 auf rund 7.600 Einwohner zurückgehen.
Kommentare: 1
Ein Thema auch für manche kleine Orte ist die Unterbringung von Flüchtlingen in staatlichen Objekten oder angemieteten Objekten. Da gibt es doch zunehmend heiße Diskussionen, kann das ein Ort und die Region verkraften. Vielleicht kann man mit Diensten und Dienstleistungen für Flüchtlinge doch manche kleine Orte auch lebenswerter machen, auch wenn das zuerst vielleicht nicht so den Anschein hat. Hier müssen politisch und wirtschaftliche Eliten aller Ebenen klug denken und entscheiden. Vielleicht können Flüchtlinge sogar den Ort mit zukunftsorientiert gestalten, verändern, sich einbringen hier und da. Einfach wird das aber nicht werden. Gruß- Uwe