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"Wir leben in selbst erkämpfter Freiheit"

Zum 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung spricht Iris Gleicke, die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, darüber, wie Ost- und Westdeutschland voneinander profitieren, woran wir weiter arbeiten müssen und worüber sie sich beim Gedanken an 25 wiedervereinigte Jahre am meisten freut.

Veröffentlicht:03.10.2015 Kommentare: 2

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25 Jahre sind seit der Wiedervereinigung vergangen. Was freut Sie am meisten, wenn Sie auf diese Jahre zurückblicken?
Die Jahre 1989 und 1990 waren die spannendsten der jüngeren deutschen Geschichte. Mutige Ostdeutsche sind 1989 für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen und haben die Diktatur hinweggefegt. Diese Ereignisse haben mich geprägt. Gemeinsam etwas bewegen und verändern zu können: Diese Erfahrung hat uns dabei geholfen, in den neuen Ländern demokratische Werte zu etablieren und den Einigungsprozess aktiv mitzugestalten. Wir leben in selbst erkämpfter Freiheit. Das ist das, worüber ich mich am meisten freue.

Wie haben Ost- und Westdeutschland voneinander profitiert und tun es noch heute?
Das lässt sich in einem Satz auf den Punkt bringen: Beide Teile Deutschlands haben von einer breiteren kulturellen Vielfalt und von den jeweils anderen Lebensgeschichten und Lebensumständen profitiert und werden es auch zukünftig tun. Diese Erfahrungen machen für mich die Deutsche Einheit aus. Ich finde es wichtig, dass wir uns gegenseitig zuhören, miteinander reden und voneinander lernen. Das ist ein fortwährender Prozess, von dem wir alle profitiert, egal wo wir leben.
In einer von mir im Frühjahr dieses Jahres vorgestellten Studie haben 77 Prozent der Ostdeutschen und 62 Prozent der Westdeutschen die deutsche Einheit als persönlichen Gewinn bezeichnet. Das ist ein Erfolg, und ich bin überzeugt: Wenn wir diese Umfrage in fünf oder zehn Jahren wiederholen, sind die Ergebnisse noch besser!

In Zahlen und Fakten gedacht: In welchen Bereichen hat sich seitdem die Lebensqualität in Deutschland und vor allem in Ostdeutschland besonders verbessert?
Lebensqualität kann man nicht in Zahlen messen. Sie ist abhängig von den persönlichen Lebensumständen jedes Einzelnen. In unserer Studie haben wir aber nach der allgemeinen Lebenszufriedenheit in Ost und West gefragt. Und die steigt kontinuierlich und liegt jetzt im Westen bei 83 Prozent und im Osten bei 76 Prozent. Das sind wirklich gute Werte. Wir haben eine insgesamt gute wirtschaftliche Entwicklung, eine gestiegene Lebenserwartung, eine viel bessere Wohnsituation und eine gute Gesundheitsversorgung. Wir haben einen in Ost und West gleichen gesetzlichen Mindestlohn durchgesetzt, und bei der Kinderbetreuung sind wir Spitzenreiter. Das kann sich sehen lassen.

In welchen Bereichen gibt es dagegen weiter Handlungsbedarf, und wie reagiert die Bundesregierung darauf?
Natürlich sind wir noch nicht am Ziel. Die Folgen von 40 Jahren Teilung lassen sich nicht in 25 Jahren komplett beseitigen. Handlungsbedarf sehe ich vor allem bei der Stärkung der Wirtschaftskraft, bei der Angleichung der Löhne und Einkommen und natürlich bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Der Bevölkerungsrückgang als Folge der jahrelangen Abwanderung stellt uns vor zusätzliche Probleme. Wenn wir weniger werden, müssen wir effizienter werden, noch stärker in Bildung und Ausbildung der jungen Menschen investieren und noch mehr auf die Erfahrung und das Können der Älteren setzen.
Auch der wirtschaftliche Aufholprozess ist noch längst nicht abgeschlossen und kommt schon seit Jahren nur noch sehr langsam voran. Die ostdeutsche Wirtschaft wächst zwar, aber die westdeutsche Wirtschaft wächst eben auch. Man könnte auch sagen: Wir verfolgen ein Ziel, das sich genauso schnell bewegt wie wir selbst, und deshalb kommen wir ihm derzeit nicht näher. Zurückzuführen ist das vor allem auf die Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft, und diese Kleinteiligkeit ist ein strukturelles Problem. Uns fehlen im Osten ganz einfach die Großunternehmen und Konzerne und ihre Forschungsabteilungen. Wir dürfen in unseren Bemühungen nicht innehalten. Wir brauchen einen langen Atem! Ein Ende der Ostförderung würde bedeuten, einen Motor abzuwürgen, den man gerade mit viel Aufwand zum Laufen gebracht hat. Das wäre grotesk. Eine reine Ostförderung ist nach dem Auslaufen des Solidarpakts II im Jahr 2019 allerdings auch niemandem mehr zu vermitteln. Was unser Land deshalb für die Zeit nach dem Solidarpakt braucht, ist eine zuverlässige Förderung der strukturschwachen Regionen in Ost und West. Was der Osten außerdem braucht, ist ein fairer Bund-Länder-Finanzausgleich, der dafür sorgt, dass in allen Regionen die zentralen Aufgaben, etwa im Bereich der Daseinsvorsorge, auch in Zukunft erfüllt werden können.

Haben sich die maßgeblichen Faktoren für Lebensqualität seit der Wiedervereinigung verändert? Sind heute andere Dinge wichtig als vor 25 Jahren?
Wir haben in 25 Jahren sehr viel erreicht, und den Rest schaffen wir auch noch. Es kommen aber auch neue Herausforderungen auf uns zu. Weltweit ist die Zahl der Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung sind, so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Viele von ihnen suchen Schutz bei uns in Deutschland. Hier müssen wir gemeinsam handeln.

Was ist für Sie persönlich Lebensqualität?
Es gibt ein Gedicht von Nazim Hikmet, das das besser zum Ausdruck bringt als ich selbst es könnte: "Leben einzeln und frei / wie ein Baum und dabei / brüderlich wie ein Wald, / diese Sehnsucht ist unser."

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Kommentare: 2

  • Dieser Wunsch nach Freiheit war im Vorbild begründet, das die demokratische Führung einer westlichen Welt den Diktaturen bot. Was heute oft vergessen wird ist, dass diese Demokratie auf einem Volksbewusstsein fusste, das sich die Pflicht des Einzelnen auf die Fahne schrieb und diese Pflicht auch von anderen erwartet hat. Dadurch ist ein Gefühl von Zusammengehörigkeit entstanden, das durch den Beitrag jedes Gesellschaftsmitgliedes erst in eine Gemeinschaft führte, die Demokratie tragen konnte. Ein würdevoller Umgang miteinander war Grundvoraussetzung für die Anerkennung der eigenen Leistung. Heute fehlt mir dieser würdevolle Umgang miteinander, denn sogar in meiner eigenen Familie hat sich der Gedanke festgesetzt, man wäre einer Hirarchie unterworfen, die sich gnädigerweise um einen kümmert und müsse dafür auch noch dankbar sein. Das hat nichts, aber auch gar nichts mit meinem Gefühl für Freiheit zu tun. Ich verdanke alles nur meinen Eltern und meinem persönlichen Einsatz für das Leben.

  • ...in selbst erkämpfter Freiheit und nun, was passiert jetzt gerade? Machen Politik und Regierung mit den Bürgern nicht wieder das, was sie wollen, die Freude und Hoffnung von damals ist oft gewichen dem nüchternen Realismus. Es gibt noch große Unterschiede zwischen Ost und West, es sind nur andere Risse und Mauern als damals vor 25 Jahren.
    Und nun regiert der Flüchtlingsstrom diese Gesellschaft, die ja eigentlich mit sich selber noch genug zu tun hat- hätte. Man kann den Flüchtlingsstrom von damals nicht mit heutigen Dimensionen und Anforderungen vergleichen, das wäre oder ist eine Milchmädchenrechnung.
    Vielleicht klingt das provokant als Vergleich, die DDR wurde ja an die alte BRD angeschlossen, aber man kann ja nun nicht Syrien oder andere Gebiete an Deutschland anschließen? Das macht schon einen Unterschied aus. Gruß- Uwe