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"Hier wird keiner ausgelacht"

Gutes Leben mit einer Hör-Behinderung – wie sieht das aus und unterscheidet es sich vom guten Leben anderer? Wir haben die Freiherr-von-Schütz-Schule in Bad Camberg besucht und nachgefragt. Hier gehen 230 Kinder mit ganz unterschiedlichen Hörschädigungen zur Schule.

Veröffentlicht:28.09.2015 Kommentare: 0

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"Das Leben ist einfach schön, weil man lebt", findet Brian (11 Jahre) ganz spontan. Er geht mit sechs anderen Jungen und Mädchen in die vierte Klasse und kann ganz normal sprechen. "Dank des Unterrichts", erklärt er, denn wegen seines eingeschränkten Hörverständnisses hatte er früher einen Sprachfehler. Lukas (9 Jahre) freut sich, dass er hier Freunde hat, man Rücksicht aufeinander nimmt und nicht ausgelacht wird. "Für mich ist gut, dass die meisten Menschen mich verstehen", ergänzt er fröhlich.

Auf die Frage, wie sie die Lebensqualität in Deutschland einschätzen, sprechen die Schüler über Dinge, über die viele andere Menschen auch sprechen. Darüber zum Beispiel, "wie gut es uns geht in Deutschland, wenn man im Fernsehen die vielen Flüchtlinge sieht". Janis (10 Jahre) ist "sehr froh, dass wir hier alle ein Dach über dem Kopf haben". Und Ozan (11 Jahre) betont, dass in Deutschland Gott sei Dank kein Krieg ist.

Der Unterricht findet in dieser Klasse mit Kopfhörer und Mikrofon statt. Die Kinder in der 4 können alle hören – der eine mehr, der andere weniger; manche Dank eines Implantats, andere, weil sie einen Rest an Hörvermögen haben.

Hier bekommt jedes Kind, was es braucht

Etwa 30 der 230 Schüler in der Freiherr-von Schütz-Schule kommunizieren ausschließlich mit Gebärdensprache. Das sind meist Kinder, deren Eltern häufig auch gehörlos sind. Gebärdensprache ist ihre Muttersprache, erklärt der Schulleiter Martin Fringes. Die anderen Schüler kommunizieren sowohl in Lautsprache als auch in Gebärdensprache. Englisch, Französisch – auch Fremdsprachen lernen die Kinder der Freiherr-von-Schütz-Schule.

Die Schule ist ein überregionales Beratungs- und Förderzentrum in Trägerschaft des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Es gibt nicht nur den Unterricht hier vor Ort, sondern Beratung und Unterstützung für 300 weitere Kinder, die ein Problem mit dem Hören haben, dabei aber Regelschulen besuchen.

Mehr Gebärdensprachdolmetscher und Untertitel wären gut

Wie die Kleinen aus der 4. Klasse so sind auch die 14- bis 15-Jährigen der 8. Klasse ganz “normale“ Jugendliche, die Sport machen und Freunde treffen. "Blöd, wenn ausgerechnet auf einer Party plötzlich die Batterie vom CI leer ist." Tim (14 Jahre) grinst. "Manchmal ist das halt doof", fügt er hinzu. CI (Cochlea Implantat) ist eine Hörprothese, die vielen gehörlosen Menschen das Hören mit Hilfe eines Sprachprozessors ermöglicht. Auf die Frage, was sich aus ihrer Sicht verbessern müsste, wünscht sich Marco (14 Jahre) mehr Gebärdensprachdolmetscher und erzählt, dass in Amerika ganz viele Menschen das Fingeralphabet können, was die Verständigung sehr viel einfacher macht. Dies wird dort in der Highschool unterrichtet, erzählt der Lehrer der Klasse, Jan Roost.

Und Jesse (14 Jahre) fügt hinzu, dass Untertitel für Videos und Spielfilme toll wären. "Denn sonst können wir so viele Filme einfach nicht verstehen."

"Wir sind gespannt"

Am 30. September veranstaltet das Beratungs- und Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Hören einen eigenen Bürgerdialog. Die Teilnehmer sind alle auf die eine oder andere Weise mit der Schule verbunden. So werden unter anderem ehemalige Schülerinnen und Schüler, Angehörige, Vertreter verschiedener Verbände und Hochschulen, Seelsorger und Künstler miteinander über gutes Leben in Deutschland diskutieren.

"Unsere Botschaft an alle, die teilnehmen, lautet: Hier könnt ihr der Bundesregierung sagen, was euch wichtig ist. Ich bin sehr gespannt, ob Menschen mit Hörschädigung vielleicht andere Vorstellungen von gutem Leben haben als Menschen ohne diese Beeinträchtigung", sagt Martin Fringes, der als Schulleiter die Dialogveranstaltung federführend organisiert hat.

Eine Schule mit langer Tradition

1820 als Herzoglich Nassauisches Taubstummeninstitut gegründet, war die Freiherr-von-Schütz-Schule die erste Schule für Hörgeschädigte in Hessen. Zudem ist sie deutschlandweit die einzige Schule, die von einem Gehörlosen gegründet wurde. Ihr Gründer, der taubstumme Freiherr Hugo von Schütz (1780-1848), unterrichtete die Kinder in der Schrift- und Gebärdensprache. Später wurden die Schülerinnen und Schüler nach der rein lautsprachlichen Methode unterrichtet. 1971 erhielt die Schule den zusätzlichen Bildungsauftrag, schwerhörige Kinder aufzunehmen. Ebenfalls in den frühen 1970er Jahren begann der Internatsbetrieb. Zuvor waren die Schüler in Gastfamilien untergebracht.
Heute ist die Freiherr-von-Schütz-Schule ein überregionales Beratungs- und Förderzentrum mit der angeschlossenen Interdisziplinären Frühberatungsstelle Hören und Kommunikation in Trägerschaft des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Laut- und Gebärdensprache stehen im Schulalltag gleichberechtigt nebeneinander.