Brauchtum in Deutschland: Gelebter Alltag
Woher kommen eigentlich unsere Brauchtümer? Wir haben dazu Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba gefragt.
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Quelle: picture-alliance/dpa/Patrick Seeger
Volksfest, Lederhose, Currywurst – für manche sind das Klischees, andere sehen darin den Ausdruck von Tradition. Woher kommen solche Traditionen und Brauchtümer eigentlich? Und: Was bringen Sie den Menschen? Vielleicht ein Stück Lebensqualität? Wir haben dazu Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba gefragt. Er ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität in Berlin. Im Interview erklärt er, warum Brauchtümer noch heute wichtig sind und warum sogar in Amerika das Oktoberfest gefeiert wird.
Herr Kaschuba, warum sind Brauchtümer wichtig?
Brauchtümer erinnern uns an unsere Geschichte, an unsere Herkunft und unsere Vergangenheit. Früher konnten wir als Individuum nicht überleben, deshalb entstanden solche Formen von Gruppenkultur. Wir brauchen ein "Wir-Gefühl". Dabei helfen uns Brauchtümer und Rituale wie Feste oder Karneval, aber auch andere kulturelle Formen wie Begrüßungen, Esskultur oder Sprache. Brauchtum ist deshalb immer auch gelebter Alltag.
Wo haben Brauchtümer mehr Bedeutung, in der Stadt oder auf dem Land?
Gerade in ländlichen Regionen haben Brauchtumsvereine eine wichtige soziale Funktion. Sie fördern Kontakt und Geselligkeit. Die Vereine organisieren das soziale Leben – und sie sind ein Ort, an dem Politik betrieben wird und an dem sich Machstrukturen bilden. Aber auch in der Großstadt suchen wir uns bestimmte Rituale und feiern Feste, die unsere „urbane“ Identität betonen. Das sind dann eher eventhafte Rituale, wie zum Beispiel eine Silvesterparty am Brandenburger Tor, aber auch sie fördern das "Wir-Gefühl".
Inwieweit tragen Brauchtümer zu gutem Leben, zu mehr Lebensqualität bei?
Wir leben in einer zunehmend globalen Welt. Die Menschen möchten sich stärker verwurzeln, sie wollen authentisch sein und sich in einer Gemeinschaft wiederfinden. Deshalb engagieren sie sich im Fußballverein, im Schützenverein oder in der Kirche. Heute allerdings haben wir die Wahlmöglichkeit, solchen Gemeinschaften beizutreten oder eben nicht. Früher wurde man einfach hineingeboren, war die Zugehörigkeit nicht wählbar.
Manche befürchten ja, dass unser eigenes Brauchtum von Einflüssen aus den USA verdrängt wird und wir bald nur noch Halloween oder Baby Showers [Fest für werdende Mütter] feiern. Wie sehen Sie das?
Brauchtum war nie rein und ursprünglich. Es wurde gerade in Deutschland schon immer auch verändert oder neu erfunden. Seit der Frühen Neuzeit wandern Rituale durch Europa – eben mit der zunehmenden Migration. Menschen wurden aus Regionen vertrieben, siedelten sich woanders an und brachten an den neuen Ort ihre Traditionen mit. Es geht also immer auch um Bewegung und Mischung. Wie heute, wenn eines der größten Oktoberfeste in Boston in den USA gefeiert wird oder ein riesiger deutscher Weihnachtsmarkt im englischen Birmingham. Alles, was neu kommt, wird lokal angepasst. Und wir werden dabei nicht enteignet, sondern halten Traditionen durch Variation lebendig.
Viele Brauchtümer sind sehr unterschiedlich, auch innerhalb Deutschlands. Es gibt zum Beispiel sowohl den rheinischen Karneval als auch die schwäbisch-alemannische Fastnacht. Wie kommt das?
Karneval und Fastnacht liegen unterschiedliche Traditionen zugrunde. Die alemannische Fastnacht hat ihren Ursprung im Dörflichen. Im Dorf ist das Individuum der Gemeinschaft untergeordnet, es gibt strenge Hierarchien. Indem sich die Menschen nun maskieren, können sie während der Faschingstage unerkannt und fast anarchisch agieren und auf den Putz hauen. Der städtische Karneval wiederum hat seinen Ursprung im 18. und 19. Jahrhundert. Hier feierte sich eine aufgeklärte Bürgerschaft selbst und machte sich über fremde wie eigene Mächtige lustig.
Kommentare: 5
Ich sehe nicht, das Brauchtümer Deutschlands politisch angehaucht sind. Nicht die Faschingszeit, nicht Weihnachten, Ostern, Pfingsten usw. usw. All diese Feste sind grundsätzlich heidnische Feste, die das Christentum kurzerhand für sich vereinnahmt hat.
Ich bin kein Karnevalsfreund, aber Karneval gehört ja in vielen Gegenden zum Leben der Menschen dazu. Aber auch das ist nun teilweise politisch nicht ungefährlich, wenn man da bestimmte Themen und Probleme bei den Umzügen "ansprechen" will, dieses Jahr wurden ja auch Umzüge oder Veranstaltungen dazu abgesagt oder verändert. Wie kann oder soll es damit weitergehen? Wer übt da Druck aus auf die sonst so mutigen und rührigen Karnevalisten? Gruß- Uwe
Was auch hier vielleicht mit hinein gehört, die Mundarten, die Sprachen bestimmter Volksgruppen in Deutschland, u.a. Plattdeutsch, vieles stirbt langsam aus, wird zu wenig oder kaum noch gepflegt. Aber auch diese besonderen "Sprachkulturen" sind doch teil deutschen Brauchtums, Kultur und Tradition. Wer kann eigentlich noch die richtige alte deutsche Sprache schreiben, zumindest vielleicht noch lesen, das ist auch fast verloren gegangen. Gruß- Uwe