"Ohne freiheitliche Ordnung wäre Lebensqualität nicht denkbar"
Prof. Dr. Christian Waldhoff ist Verfassungsrechtler und Dekan der Juristischen Fakultät an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Interview sagt er, welchen Einfluss Gesetze auf Lebensqualität haben und wann sich staatliches Bemühen auch negativ auswirken kann.
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Quelle: picture-alliance/dpa
Prof. Waldhoff, was sind die wichtigsten demokratischen Grundwerte in Deutschland?
C. W.: Im demokratischen Verfassungsstaat, den das Grundgesetz aufrichtet, muss jede staatliche Gewalt auf das Volk zurückgeführt werden. Das Volk sind wir, alle Bürgerinnen und Bürger. Uns erscheint das meist so selbstverständlich, dass wir kaum darüber nachdenken. Ich habe noch gut in Erinnerung, dass Menschen, denen dies vorenthalten wurde, mit dem Ruf "Wir sind das Volk!" auf die Straße gingen, um dieses Recht einzufordern. Der Staat, der das verhinderte, brach wenig später zusammen.
In der Bundesrepublik besteht stets eine Verbindung zum Wahlakt des Volkes. Die Juristen sagen: Alle Staatsgewalt in Deutschland ist dadurch demokratisch legitimiert. Entscheidend ist zudem, dass wir in einer freien Gesellschaft leben, in der sich eine öffentliche Meinung ausbilden kann. Nur so sind Wahlen und Abstimmungen sinnvoll. Das wird durch Grundrechte abgesichert, die notfalls vor dem Bundesverfassungsgericht eingeklagt werden können: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit und weitere Grundrechte. Das Grundgesetz verbindet die beiden Stränge – Rückführung allen Staatshandelns auf das Volk und Sicherung einer freien Gesellschaft –, indem es die Menschenwürde programmatisch an die Spitze unserer Rechtsordnung stellt. Nur ein freies und demokratisches Staatswesen erfüllt das Versprechen der Garantie der Menschenwürde.
Hat sich Demokratie und haben sich die Werte in den letzten Jahren verändert?
C. W.: Die Gesellschaft verändert sich ständig. Das Grundgesetz ist in seinen Kernaussagen jedoch seit 1949 weitgehend unverändert. Das zeigt zum einen den Weitblick der Väter und Mütter unserer Verfassung; es zeigt zugleich die Wirkweise einer Verfassung, sich nicht stets den tagesaktuellen Entwicklungen anzupassen, sondern eine dauerhafte Ordnung zu etablieren. Gleichwohl hat es auch hier Anpassungen gegeben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Datenschutz und der Schutz der Kommunikation mittels Computer und Internet sind inzwischen auch ein Anliegen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Daran konnte 1949 noch niemand denken.
Welche Rolle spielt unsere staatliche Grundordnung für die Lebensqualität in Deutschland?
C. W.: Die Bedeutung der staatlichen Grundordnung für die Lebensqualität in Deutschland ist kaum zu überschätzen – auch wenn uns das nicht immer bewusst ist. Ohne unsere abgesicherte, durch Rechtsschutz garantierte freiheitliche Ordnung wäre all das, was wir in einem weiteren Sinn unter Lebensqualität fassen, gar nicht denkbar. Bewusst wird uns dieser Zusammenhang meistens erst bei gegenteiligen Erfahrungen, etwa im Ausland.
Können Gesetze überhaupt einen Einfluss auf die Lebensqualität haben?
C. W.: Gesetze "gelten". Allein dadurch verändern sie noch nichts. Gesetze sind jedoch die Basis für staatliches Handeln und dieses fördert in vielfacher Weise die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger. Unser freiheitlicher Verfassungsstaat ist ein Rechtsstaat, das heißt alles staatliche Handeln ist durch Gesetz und Recht angeleitet. Dadurch wird Rechtssicherheit hergestellt. Die Menschen wie auch die Wirtschaft können sich auf diese im internationalen Vergleich hervorragend funktionierende Rechtsordnung im wahrsten Sinne des Wortes verlassen. Das ist ein entscheidendes Stück Lebensqualität!
Wann und wie kann sich staatliches Eingreifen auch negativ auf Lebensqualität auswirken?
C. W.: Der Staat muss in vielen Bereichen eine Balance zwischen einander widerstreitenden Zielen erreichen. Ich nenne ein Beispiel: Öffentliche Sicherheit ist zentral für die Lebensqualität der Menschen in Deutschland. Es kann aber auch ein Zuviel an Anstrengungen geben, diese Sicherheit zu erreichen, und das staatliche Bemühen kann dann ins Gegenteil umschlagen. Was ursprünglich zur Sicherung von Lebensqualität gemeint war, verringert dann letztlich Lebensqualität, da Kontrollen und Misstrauen überhand nehmen können. Wo hier die Grenze zu ziehen ist, kann nicht abstrakt umschrieben werden. Es ist meistens eine politische Frage.
Kommentare: 4
Wenn Gesetze gelten, dann frage ich, was haben diese Gesetze mit unserem Grundrecht auf Gleichberechtigung gemacht. Wie vertragen sich Kapital fördernde Maßnahmen mit dem Grundrecht auf eine systematische Weiterführung der menschlichen Werte? Anwälte verteidigen/vertreten Menschen und ich frage mich, gegen was oder wen, Versicherungen versichern Menschen und ich frage mich, mit welchem Hintergrund geschieht das heute, Banken unterschlagen Geld und ich frage mich, mit welchem Recht. Über die vergangenen Jahre hat sich eine elitäre Kultur entwickelt, die sich im heutigen Staatswesen widerspiegelt, das den realen Alltag diktiert ohne rechtlichen Hintergrund. Dieser Alltag spiegelt den Kampf des Volkes um das Recht zu sein, wer man ist, was man ist und wie man ist, ohne Fremddiktat unter dem Schutz der Gemeinschaft. Gleichberechtigung war einmal ein tragendes Wort bei der Verfassung unserer Grundrechte, doch verlor sie massiv an Boden. Theorie und Praxis haben sich voneinander entfernt.