"Niemand ist vollständig"
Am Mittwoch diskutierte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Schulzentrum Paul Friedrich Scheel in Rostock mit 29 Schülerinnen und Schülern über gutes Leben. Es war die 99. Dialog-Veranstaltung – und die zweite mit direkter Beteiligung der Bundeskanzlerin.
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Quelle: Bundesregierung/Kugler
"Ich sag erstmal Guten Tag." Mit diesen Worten begrüßte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Schülerinnen und Schüler in Rostock. Einer der beiden Moderatoren sagte zu Beginn: "Wir haben uns gefragt, was Sie heute wohl tragen werden". Die Schüler kicherten, die Bundeskanzlerin schaute an ihrem lindgrünen Sakko herunter, schmunzelte und sagte: "Geht doch, oder?" Es herrschte eine lockere, aber konzentrierte Atmosphäre.
Höheres Bewusstsein
"Uns ist wichtig, dass die Bundesregierung mehr für Umwelt und Klima unternimmt", wünschten sich zwei Schülerinnen. Ihnen sind Müllbeseitigung, Tierhaltung und Erneuerbare Energien wichtig. Menschen sollten weniger Müll erzeugen, Tiere bräuchten mehr Platz sowie sauberere Käfige und Gehege. Zudem müssten noch mehr Erneuerbare Energien genutzt werden. Die Bundeskanzlerin sagte dazu: "Es ist wichtig, dass wir uns mit der Nahrungsmittelproduktion auseinandersetzen. So wird ein höheres Bewusstsein für die Lebensumstände der Tiere geschaffen, aber auch für die Qualität der Lebensmittel." Im Anschluss wünschten sich die Schülerinnen und Schüler ein Statement zu den Klimazielen der Bundesregierung. Angela Merkel erklärte, dass sich die deutsche Politik verpflichtet habe, künftig weniger CO2-Ausstoß zu verursachen. Deshalb produzierten einige Braunkohlekraftwerke nicht mehr aktiv. "Zudem ist die Windenergie bei uns auf dem Land bereits sehr effektiv", sagte die Kanzlerin. Ein Einwand folgte von Seiten der Schüler: "Ja, aber die schießen wie Pilze aus dem Boden und sind sehr laut."
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Schnellere Asylverfahren
Das nächste Themenfeld war die Gleichberechtigung und Integration. Eine palästinensische Schülerin aus dem Libanon erklärte, dass ihre Familie nur ein vorläufiges Bleiberecht habe und jederzeit abgeschoben werden könne. "Solange ich nicht weiß, ob ich hier bleiben darf, weiß ich auch nicht, wie meine Zukunft sein wird. Ich würde so gerne in Deutschland studieren. Es ist ungerecht dabei zuzusehen, wie andere das Leben genießen können und man das selber nicht so machen kann", so die Schülerin. Angela Merkel entgegnete ihr, dass Asylanträge künftig schneller bearbeitet würden. "Wir etablieren derzeit ein beschleunigtes Asylverfahren. Aktuell brauchen wir im Durchschnitt fünf Monate. In Zukunft wollen wir es in drei bis vier Monaten schaffen", erklärte die Kanzlerin. Das Mädchen musste weinen und wischte ihre Tränen mit einem Taschentuch weg. Angela Merkel ging auf die Schülerin zu und tröstete sie mit den Worten: "Du hast das ganz toll gemacht". Daraufhin gab es großen Applaus für die junge Libanesin.
Mehr Gleichberechtigung
Nach diesem emotionalen Moment wurde die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen diskutiert. “Ich bin homosexuell und kann es nicht nachvollziehen, warum die Homo-Ehe nicht anerkannt wird und warum gleichgeschlechtliche Paare keine Kinder adoptieren dürfen“, sagte ein Schüler. “Meiner Meinung nach ist Ehe die Verbindung von Mann und Frau. Aber diese Diskussion ist innerhalb der Bundesregierung noch nicht abgeschlossen. Wir müssen weiterhin darüber debattieren“, entgegnete die Bundeskanzlerin. Zudem wurde auch die Gleichstellung von Männern und Frauen in der Berufswelt besprochen. Eine Schülerin bemängelte die Vereinbarkeit von Kindern und Karriere. Es sei schwierig, Kinder zu erziehen und gleichzeitig zu arbeiten. Die Kanzlerin ermutigte insbesondere die anwesenden Mädchen: "Fallt nicht in alte Rollenmuster zurück, wir müssen raus aus diesen Bahnen." An die Schülerinnen appellierte die Kanzlerin: "Überlegt euch doch mal, einen naturwissenschaftlichen Beruf zu ergreifen." Und den Jungen riet sie: "Ihr könnt auch Krankenpfleger oder Erzieher werden." Die Kindererziehung sei Aufgabe beider Elternteile gleichermaßen. Außerdem seien Beruf und Familie heute leichter vereinbar, die Kinderbetreuung in Deutschland würde stetig ausgebaut.
Weniger Berührungsängste
Das Thema Inklusion lag den Schülerinnen und Schülern besonders am Herzen. Obwohl an ihrer Schule das Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Kindern gut funktioniert, ist den Schülern bewusst, dass die Inklusion noch lange nicht alle Lebensbereiche erreicht hat. "Das Konzept ist gut, die Umsetzung oft schwierig", erzählte ein Schüler. Viele Menschen hätten nicht genügend Toleranz und Sensibilität, wenn sie Behinderten im Alltag begegnen. Hier sah auch die Bundeskanzlerin Verbesserungsmöglichkeiten. Es gebe meist Hemmungen und Berührungsängste: "Viele haben noch nie einen Behinderten kennengelernt oder mit Behinderten gesprochen." Man müsse offen aufeinander zugehen und Ängste und Vorurteile abbauen. "Niemand ist vollständig", so die Kanzlerin. "Ich war immer schlecht im Sport. Niemand kann von sich behaupten, der ideale Mensch zu sein. Daher sollte man nachsichtig miteinander umgehen." Einig waren sich alle darin, dass für Unternehmen mehr Anreize geschaffen werden sollten, Menschen mit Behinderung einzustellen. Auch die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum war ein wichtiges Thema für die Schülerinnen und Schüler.
Nach rund 90 Minuten endete eine lebhafte Diskussion. Alle Teilnehmer applaudierten einander und gingen mit vielen Anregungen nach Hause.
Kommentare: 81
Aus Dr. Merkel (aber auch nur stellvertretend) spricht eine zynische Politik, die Diskriminierung als Meinung unter anderen verharmlost. Ich finde es wirklich krass, wenn einem (schwulen) Jugendlichen seine Ungleichbehandlung aufgrund seiner sexuellen Orientierung als Meinungsbildungsprozess nahegebracht werden soll - beachtliche scheiße. Mir hingegen leuchtet überhaupt nicht ein, wieso sich Leute und insbesondere Politiker_innen anmassen dürfen, Homosexualität als etwas Ungleichwertiges zu behandeln. Es steht dem Staat überhaupt nicht zu, in die persönlichen Beziehungen solcherart einzugreifen.
Über den Umgang mit dem Mädchen bin ich auf diesen Dialog gestossen - ich finde das wirklich entsetzlich. Krass, wie hier einer Betroffenen ganz beiläufig eine verfehlte Asyl- und Einwanderungspolitik vorgesetzt wird.
So wird das nichts mit einem nicht-populistischen Bürger_innendialog - das sollte weder Wahlkampfrede noch Ausschussdebatte sein.
Das hört sich alles immer sehr konstruktiv und hoffnungsvoll an. Doch funktioniert vieles dann nur über jede Menge leistungsfressende Missverständnisse, Reibungsverluste, Misserfolge, Korrekturbemühungen, Frustrationen, Aggressionen und Gewalteskalationen, Folgenbeseitigung und Präventionsmaßnahmen. Weil das Wesentliche, das unser Miteinander und Nebeneinander bestimmt, kaum jemandem bewusst ist. Und deshalb entsteht auch immerwieder ein Aneinandervorbei und Gegeneinander, das irgendwann eskalieren muss, um Überlebende mit bisschen Sein und nichts Haben zufrieden zu stellen.
Kinder im Sandkasten, die sich gegenseitig ihre Sandburgen kaputt treten, sind lustiger. Unglaublich, wie wir uns als Vernunftwesen treiben und ablenken lassen und mit dem Bearbeiten von Wirkungen kaum fertig werden, weil wir zu dumm sind, die Ursachen in den Griff zu bekommen.
Bin gespannt, wann unsere Volksvertreter merken, welch gewaltige Chance wir ungenutzt lassen. Als ginge es uns täglich besser ...
Diesen Beitrags hat Frau Merkel sicher nicht selbst erstellt, die Richtigstellung des Sachverhaltes hat sie schon eher veranlasst. Deswegen verstehe ich den ganzen Wirbel wirklich nicht. Auch verstehe ich nicht, wieso sich hier jeder darüber moniert, dass die Wahrheit gesagt wurde, nämlich, dass Änderungsbedarf bezüglich der Zeitspanne bis zur Entscheidung über gestellte Asylanträge besteht, aber eben nicht jeder Antrag auch bewilligt werden kann, es kann nun einmal nicht jeder aufgenommen werden, selbst, wenn man wollte. Und sie hat auch klar gesagt, dass es doch mindestens genauso wichtig ist, dass daran gearbeitet wird, dass die Umstände, die die Menschen veranlasst, ihre Heimat, ihre Familie, ihre Lebenswelt zu verlassen, betrachtet werden und es politische Unterstützung benötigt, dass an diesen Lebensbedingungen gearbeitet wird, damit diese besser werden. Ich bin keine politische Aktivistin, aber die Sendung muss doch wirklich jeder Kritiker auch mal reflektiert betrachten.