Jenseits von "gut" und "böse"
Das Theater ist fester Bestandteil des kulturellen Lebens – in der Großstadt, aber auch im ländlichen Raum. Alexander Netschajew ist Intendant des Theaters der Altmark in Stendal. Im Interview spricht er über hochgeklappte Bürgersteige, "Traumfrauen" und Theater zum Mitmachen.
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Quelle: Kerstin Jana Kater
Herr Netschajew, was kann das Theater zur Lebensqualität in Deutschland beisteuern?
Theater ist ein geschützter Raum, in dem aktuelle und allgemeine Themen des menschlichen Miteinanders dramatisch oder komödiantisch, jedenfalls emotional, verhandelt werden. Es geht um viel mehr als um die Bespaßung der "oberen Zehntausend". Durch die unmittelbare, live vorgetragene darstellerische Kraft wird gemeinsam menschliches Handeln bestaunt, beargwöhnt, abgelehnt oder bejubelt. Im Theater geht es nicht um die berühmten Hollywood-Kategorien "gut" und "böse", sondern um vielschichtige Gemengelagen. Dem Zuschauer wird sinnlich vor Augen geführt, dass das menschliche Zusammenleben vielfältig und manchmal auch kompliziert ist. Mit einfachen Lösungen kommt man da meist nicht weit. Theater ist im besten Sinne lebendige Vermittlung von Demokratie. Gepaart – und das ist wichtig! – mit Entertainment.
Welche Bedeutung hat Kultur generell für eine Gesellschaft?
Grundsätzlich gesprochen: Kunst und Kultur sind nicht die sympathische Nische unserer Gesellschaft, sondern das Eigentliche, das sie zusammen hält. Das sage nicht ich, das sagt Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert. Und er hat damit vollkommen Recht.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wie Theater die Lebensqualität verbessert?
Im Bürgerprojekt "Traumfrauen" haben acht langzeitarbeitslose alleinerziehende Mütter und ein Vater mit Theaterkünstlern ein eigenes Stück erarbeitet. Einige von ihnen fanden durch das Projekt wieder in das Berufsleben zurück, weil regionale Unternehmer gesagt haben: Dieses Engagement unterstützen wir.
Welche Rolle spielt Theater für die eher ländliche Region rund um Stendal?
Wie überall ziehen die jungen Menschen zum Studium und zum Arbeiten in die Großstädte. Wir müssen also die Altmark, die zu den bevölkerungsärmsten Regionen Deutschlands gehört, attraktiv gestalten. Da reichen Autobahn, Windrad und grüne Wiese allein nicht aus. Und kein Unternehmer bekommt gute Mitarbeiter in eine Region, wo um 18 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden. Der "weiche" Standortfaktor Theater ist nicht zu unterschätzen. Gerade erst ist ein Ärztepaar von Hamburg nach Stendal gezogen, mit der Begründung, sie wollten ländlich, aber nicht ohne Theater leben. Wir können uns jedenfalls über Zuschauerzahlen nicht beklagen. Menschen aller Altersgruppen nehmen unseren Spielplan rege an. Mit unseren Klassenzimmerstücken, dem Puppentheater, Kleinkunstprogrammen und Busangeboten versorgen wir die gesamte Altmark mit Theater.
Wie unterscheiden sich die Ansprüche an Ihr Haus von denen an ein Theater in einer Großstadt? Sorgen Sie vielleicht sogar eher für Lebensqualität in Ihrer Region als ein Theater, das nur eines von vielen Angeboten ist?
Die gesellschaftlichen Strukturen im ländlichen Raum sind enger und persönlicher gestrickt, sodass die Identifikation der Bürger mit ihren wenigen Kultureinrichtungen viel stärker ist. So findet man in der Altmark ein gewachsenes und reges Vereinsleben. Und die Theatererlebnisse sollen hier unmittelbar mit der eigenen Lebenswirklichkeit zu tun haben. Das bedenken wir bei unserer Spielplangestaltung. Unser aktuelles Klassenzimmerstück "Krieg. Stell dir vor, er wäre hier" von Janne Teller beschäftigt sich mit der Frage, wie wir mit Flüchtenden umgehen. Was wäre, wenn wir selbst in eine solche Situation geraten würden? In Stendal werden derzeit gerade neue Flüchtlinge willkommen geheißen, da heißt es: aufklären.
Sie animieren die Bürger auch, selbst beim Theater mitzumachen?
Ja. Eine zunehmend wichtige Rolle spielt unser Angebot im Bereich Junge Bühne und Bürgerbühne. Das sind Angebote zum Mitmachen. Erst kürzlich entwickelten wir ein eigenes Stück "Ritter Roland", das die Stendaler Stadtgeschichte aufgreift. Bei den Aufführungen wirkten ca. 100 Bürger mit, standen mit unseren Profi-Schauspielern gemeinsam auf der Bühne oder halfen bei den Vorbereitungen.
Wie werden die Spielclubs der Jungen Bühne und der Bürgerbühne von den Stendalern angenommen?
Sehr gut. Momentan ist die Nachfrage der Bürger nach selbst gestaltetem Theater größer als unsere Möglichkeiten. Wir haben einen zusätzlichen Spielclub eröffnet. Jetzt gibt es einen Schauspielclub für kleine Kinder, einen für Schüler mittleren Alters, einen für Jugendliche und einen für Erwachsene. Darüber hinaus haben wir einen Theaterchor, einen Musical-Jugendclub sowie den "Club der Experten" – eine Kooperation mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – und den "Club der Andersbegabten" für Menschen mit und ohne geistigem oder körperlichem Handicap. Dies entspricht einer Verdoppelung des früheren Mitmach-Angebots. Das Theater der Altmark übernimmt mit dieser Jugend- und Bürgerarbeit eine wichtige Funktion der Verwurzelung von Kultur und bürgerlichem Engagement hier in der Region.
Kommentare: 7
Ich finde es schön, wenn auch bei Kunst und Kultur an "Andersbegabte" gedacht wird, auch die Bezeichnung finde ich sehr tragend und vielversprechend, denn die Begabung ist der Kern des Menschen, auf den wir heute nur sehr selten vordringen.