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Das Normale ist das Besondere

Mehr als acht Millionen Deutsche sind älter als 75 Jahre. Tendenz steigend. Deshalb fragen sich immer mehr Menschen, wie sie auch im Alter gut leben können. Auf einem Bauernhof im Westerwald erproben Senioren eine ungewöhnliche Lösung.

Veröffentlicht:24.05.2015 Kommentare: 4

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Um Punkt neun Uhr öffnet sich das große Hoftor und eine kleine Schar junger Gänse kommt herausgewatschelt. Angeführt werden sie von Agnes Seibert. Die 82-Jährige spielt eine Melodie auf ihrer Mundharmonika, die Gänse folgen aufmerksam der Musik. "Ich bin mit Tieren aufgewachsen", erzählt Agnes Seibert. Jetzt kümmert sie sich wieder um Vogelvieh und Vierbeiner: Täglich bringt sie die Gänse auf die Wiese und führt den Dackel ihres Mitbewohners aus. Ihres Mitbewohners? Agnes Seibert hat insgesamt sieben Mitbewohner und Mitbewohnerinnen. Sie lebt in einer Senioren-WG in Marienrachdorf im Westerwald.

Senioren helfen im Haushalt und auf dem Hof

In der Küche des alten Bauernhauses bereitet Sandra Kersten das Mittagessen vor. Sandra Kersten ist Mitarbeiterin des Pflegedienstes, der die Senioren unterstützt. Regina Koch steckt den Kopf in die Küche. "Was gibt es denn?", fragt die 94-Jährige. "Schnitzel, Reis und Blumenkohl." "Reis?" Regina Koch seufzt. Sandra Kersten lacht. "Wenn es nach den Bewohnern ginge, gäbe es jeden Tag Kartoffeln, in allen Variationen." Neben den Mahlzeiten kümmern sie und ihre Kollegen sich um die Pflege der Senioren und um den Haushalt. Hilfe bekommen sie dabei von den WG-Bewohnerinnen und -Bewohnern – je nachdem, wie fit sie sich fühlen.

"Wir versuchen hier Alltag zu schaffen", sagt Cornelia Licht, Leiterin des Pflegedienstes. Wäsche falten, bügeln, Kartoffeln schälen – wie in einem ganz normalen Haushalt eben. Gerade diese Normalität ist etwas Besonderes. Spezielle aktivierende Maßnahmen wie in klassischen Pflegeheimen gibt es hier weniger. Stattdessen sammelt die demenzkranke Getrud Wörsdörfer die Eier im Hühnerstall ein und Johann Rink, der früher ganz in der Nähe einen eigenen Hof hatte, schaut bei den Kühen nach dem Rechten.

Familie sucht Lösung für den alten Bauernhof

"Die Frage ist doch: Was wollen alte Menschen?", sagt Guido Pusch. "Soziale Kontakte, ein schönes Umfeld, Besuch von ihren Familien." Pusch ist der Vermieter der Wohngemeinschaft. Der Hof ist seit knapp 245 Jahren im Besitz seiner Familie. Als vor einigen Jahren nur noch Puschs Großmutter auf dem Hof wohnte, suchte die Familie nach einer Lösung. Guido Pusch fand sie in der Zusammenarbeit mit Cornelia Lichts Pflegedienstteam. Bauernhaus und Scheune wurden seniorengerecht umgebaut und Oma Pusch bekam Mitbewohner. Fast fünf Jahre ist das inzwischen her. Heute leben hier in zwei Wohngemeinschaften insgesamt 16 Seniorinnen und Senioren. Alter: ab 76 Jahre. Um die zum Hof gehörende Landwirtschaft kümmert sich Guido Pusch.

Gemeinsam mit Johann Rink steht er am Rand der Kuhweide. Sie fachsimpeln. Johann Rink, der sein Alter nicht verrät – "Nur so viel: Ich bin drei Tage jünger als der Papst."–, musste seinen Hof aufgeben, als seine Frau krank wurde. Jetzt lebt er in einer der beiden Wohngemeinschaften auf dem Pusch-Hof. Hat er sich gut eingelebt? "Doch, doch. Wir verstehen uns", sagt Rink und schaut lächelnd zu Guido Pusch hinüber. "Manchmal sagt er mir die Meinung und manchmal sage ich ihm die Meinung. Zwei Bauern unter sich halt." Im Sommer kommen sie oft gemeinsam zur Weide und beobachten die Tiere.

"Es ist schon viel Idealismus dabei"

Zwei Senioren-WGs und dazu die laufende Landwirtschaft – dieses Modell begeistert immer wieder Menschen. Gemeinderäte aus anderen Ortschaften wollen wissen, ob das Modell auch für ihre Gemeinde in Frage kommt. Investoren fragen: Rechnet sich das? "Was heißt das schon, sich rechnen?", fragt Guido Pusch zurück. Würden er und das Pflegedienstteam jede Stunde aufschreiben, die sie in der WG verbringen, nein, es würde sich wohl nicht rechnen. "Es ist schon viel Idealismus dabei", sagt Cornelia Licht. Jeden Tag schaut Pusch auf dem Hof bei den Bewohnern vorbei und kümmert sich um die Tiere. Seine Frau übernimmt die Einkäufe. "Die Bewohner können hier alles machen, was sie möchten", sagt Licht. "Aber Haushalt und Hof müssen auch laufen, wenn alle einen Tag lang einfach im Bett bleiben würden."

Cornelia Licht und Guido Pusch wünschen sich, dass die Politik die Vorgaben dafür möglichst einfach hält. Die Pflegedienst-Leiterin gibt ein Beispiel: In der Wohngemeinschaft können die Senioren beim Kochen oder Backen helfen. Wäre nun plötzlich verlangt, dass eine zertifizierte Küche jede Mahlzeit zubereitet, ginge ein wichtiger Teil der Idee verloren. So aber sitzt Getrud Wörsdörfer am Küchentisch und schält einen Apfel. In ein paar Minuten wird sie das vergessen. Aber ihre Hände, die erinnern sich wie das geht mit dem Apfelschälen. "Als Gertrud zu uns kam, hat sie oft geweint, war depressiv", sagt Cornelia Licht. Jetzt strahlt die alte Frau sie an. "Ich hab' dich lieb", sagt sie und nimmt noch ein Stück Apfel.

Kommentare: 4

  • Hallo, das Thema ist wichtig, Wohngemeinschaften schon dann ermöglichen, wenn man es möchte und es sollte auch leichter für Menschen machbar werden, die keinen Unterstützungsbedarf haben. Wir könnten und können so ältere Gebäude, Bauern- Gutshäuser wieder beleben, ja das "Dorf im Dorf" schaffen, alles passt dann zusammen. So können sich ältere Menschen oder auch Menschen von JUNG bis JUNG geblieben" ergänzen, sich selber unterstützen, können füreinander da sein, so lange selbst bestimmt wie machbar. Senioren können sich so auch noch selber beschäftigen, aktiv sein, können sich mit ihren Schätzen und Talenten einbringen und man kann so vergreisende Regionen und Orte wieder lebendiger und bunter machen. Das sollten Politik und Staat fördern, es dient ja der Zukunft. Beschäftigung- Betreuung- Wohnen können so zu Freude, Glück, Zufriedenheit und Geselligkeit führen, das dient dann auch der Gesundheit und Lebensqualität der Menschen. Weiter so, ALLES GUTE. Gruß- Uwe

  • Immer wieder freue ich mich an Öffentlichkeitsarbeit von Projekten für Gemeinschaftlich Wohnen .... und bedauere zugleich, dass dabei häufig Beispiele von Wohngemeinschaften für Menschen mit Unterstützungsbedarf vorgestellt werden! Diejenigen die schon vorher (wie ich 63, mit meinem Mann 66) in einer sorgenden Gemeinschaft GUT LEBEN möchten brauchen "einen langen Atem" . Wie wir bei www.gewoNR.de . Gemeinschaftlich Wohnen im Mieterwohnprojekt mit bezahlbarem Wohnraum heiß für mich Lebensqualität. Und .... es ist die Profilaxe zur PflegeWG! Gerade laufen die Vorbereitungen zum Dialog mit Bürgern und Politik zum Thema Wohnen in unserer Stadt. Unser Beitrag zu GUT LEBEN IN NEUWIED. Näheres bei Aktuelles auf unserer Homepage.

  • Ich bin auch tief bewegt, ehrlich. Was wird auf uns und unsere Kinder im Alter zukommen, wie menschlich können wir und unsere Kinder dann leben, wohnen, in Gemeinschaft zusammen sein? Wie wenig macht man sich heute Gedanken dazu, da braucht man solche Projekte und Zukunftsbeispiele. Es muss sich viel gerade wegen der zunehmend alternden Gesellschaft auch in ländlichen Räumen ändern, man braucht neue Wohn- und Lebensformen für die dort wohnenden oder zuziehenden Menschen. Menschen müssen oder sollten sich so lange wie machbar helfen, so auch den Alltag lange selbst bestimmt gestalten. Weiterhin ALLES GUTE diesem und vielen anderen Vorbildvorhaben.